Was ist eigentlich normal? Über die Abschaffung seelischer Gesundheit

Am 19. Mai feiern wir weltweit den „Tag des Hausarztes“ – heuer im Zeichen der Depression. Oft können Hausärzte, weil sie Familien über Generationen hinweg „begleitet“ haben, ein Lied von jedem Patienten singen, doch eine einzige Untersuchung – oder in unserem Fall nur zwei Fragen – können einen gesunden Menschen in wenigen Minuten zu einem (psychisch) kranken machen. Einer Studie zufolge erfüllen schon mehr als achtzig Prozent der jungen Erwachsenen die Kriterien für eine psychische Störung. Ohne der weißen Autorität zu nahe treten zu wollen, muss man bei solchen Ergebnissen doch unweigerlich an ebenjener zu zweifeln beginnen.

Reichen zwei Fragen für eine Diagnose?

Für den Hausarzt gelten zwei einfache Fragen als zielführend bei der Diagnose einer Depression, nämlich: „Haben Sie sich im letzten Monat immer oder meistens depressiv oder hoffnungslos gefühlt?“ und „Haben Sie im letzten Monat Ihr Interesse oder die Freude an allen oder den meisten Aktivitäten verloren?“ Anlassbezogene Niedergeschlagenheit von der Krankheit Depression zu unterscheiden, ist oft nicht einfach. Die Diagnose Depression entsteht prozesshaft und wird meist erst nach mehreren Gesprächen klarer. Die Richtlinien des von der größten Psychiatervereinigung Apa herausgegebenen DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) führen allerdings zu einer stetigen Inflation psychiatrischer Diagnosen. Denn was im DSM steht, beeinflusst auch den ICD-10, jenen Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation (WHO), mit dem Ärzte und Psychologen hierzulande arbeiten. Je weiter die Psychiatrie voranschreitet, desto weniger Normale bleiben übrig, so scheint es.

Absurd viele Menschen nehmen Antidepressiva

„Die diagnostische Inflation hat dafür gesorgt, dass ein absurd hoher Anteil unserer Bevölkerung heutzutage auf Antidepressiva, Neuroleptika, Anxiolytika, auf Schlaf- und Schmerzmittel angewiesen ist“, so macht der US-amerikanische Psychiater Allen Frances in seinem bereits vor vier Jahren erschienenen Buch „Normal – Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“ auf die gefährliche Entwicklung aufmerksam. Besonders bedenklich wird es, wenn unmittelbar mit einer medikamentösen Behandlung begonnen wird, denn teils haben die oben genannten Medikamente erhebliche Nebenwirkungen. Oft bessern sich leichte Symptome allein durch das Arzt-Patienten-Gespräch innerhalb einer Woche – aber war ein solcher Patient dann wirklich je depressiv?  Bewusstes, mitfühlendes Zuhören und Einbeziehung vieler nicht-medikamentöser Strategien eignen sich am besten als erste Veränderungsangebote: diese beziehen sich auf Themen wie Akzeptanz, Schlafhygiene, Selbsthilfe, Problemlösung, Verhaltensänderungen, Sport und Bewegung.

Pharmakonzerne als stille Fädenzieher?

Die Anzahl der im DSM gelisteten verschiedenen psychiatrischen Diagnosen steigt mit jeder Auflage. Fast die Hälfte der US-Amerikaner hat die Diagnose einer lebenslangen psychischen Störung, Europa holt mit mehr als 40 % rasch auf. Angststörungen, soziale Phobien und vor allem Depressionen werden immer öfter diagnostiziert – auch vom Hausarzt. Hielt man 1980 im Fall des Verlusts eines nahen Angehörigen eine Trauerphase von einem Jahr für normal, ist diese Frist mittlerweile auf wenige Wochen geschrumpft. Wem kommt das zugute? Es ist bekannt, dass Pharmakonzerne weit mehr Geld in Werbung als in die Forschung investieren. Eine großherzig finanzierte Kampagne für mehr „Krankheitsbewusstsein“ kann demnach eine Diagnoseflut heraufbeschwören, wo es ehemals gar keine Erkrankungen gegeben hat. Dem besorgten Patienten sei im Zweifelsfalle einer entscheidenden Diagnose geraten, besser noch einen weiteren Arzt zu Rate zu ziehen und sich selbstständig zu informieren. 

Foto: Shutterstock/Photographee.eu

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